Ferdinand Ulrich

Plastiktüte

Mit Motiven und Logos versehene Tüten machen einen beachtlichen Teil alltäglicher Drucksachen aus. Sie sagen etwas über unsere Gesellschaft und ihre Kultur aus. Nachdem wir sie ein paar Mal benutzt haben, verschwinden sie meist wieder, indem sie unseren Abfall vermehren. Das vorliegende Exemplar ist mir im Frühjahr 2012 während eines Aufenthalts in San Francisco in die Hände gefallen. Zur Beschaffenheit, Botschaft und grafischen Gestaltung der Plastiktüte einige Anmerkungen:

In einem amerikanischen Supermarkt zur Kasse vorgedrungen, erhält der Kunde die berühmte Frage »plastic or paper«. In die braunen Papiertüten passt deutlich mehr hinein, sie sind belastbar und reißen kaum, haben jedoch keine Henkel, ganz im Gegensatz zu den dünnen Plastiktüten, die sich für den kleinen Einkauf eigenen. Die sogenannten >carryout t-shirt plastic bags< sind mit drei Löchern ausgestattet. Durch diese hängen sie auf einer Vorrichtung und werden wue Zettel von einem Notizblock abgerissen (der ganze Stapel hat due Form eines T-Shirts), um zum Beispiel eine Gallone Milch hineinstellen zu können. Das übernehmen College-Stunden am Ende der Kasse, die bei Safeway, Giant Eagle und Co. einen Dollar dazuverdienen und schließlich einen »großartigen Tag« wünschen.

Wie viele kleine Erfindungen des Alltags, so ist auch dieses Produkt in den Vereinigten Staaten gleich mehrfach patentiert. Der Verpackungshersteller Sonoco Products Co. in South Carolina hat 1994 eine Kreation der Erfinder Beasley, Fletcher und Wilfong unter dem Kürzel US 5335788 A eintragen lassen: »A plurality of stacked t-shirt type hight density polyethylene film bagy releasably adhered together.« (1)

Advance Polybag, Inc., einer der großen Tütenhersteller der Vereinigten Staaten, versichert mit einem auf dem Patent beruhendem Design, dass sich Touch-N-Go nennt: »Makes check-out a smoother experience.« (2) Das Produkt sei ein Fliegengewichtaber kräftig, wiederverwendbar und angeblich eunendlich oft »recyclebar«, was schwer vorstellbar ist. Die Tüte besteht aus HDPE (high-density polyethylene, Kunststoffidentifikationscode >2<), eine Thermoplastikstoff der Petroleum gewonnen wird und auch bei herkömmlicheer 3D-Drucker-faser zum Einsatz kommt. Beim nächsten Einkauf also doch lieber eine Papiertüte.

Die Botschaft auf der Tüte erkennen wir an den Reden amerikanischer Politiker wieder, insbesondere den präsidialen Ansprachen zur Lage der Union (State of the Union Address). God bless Ameica ist ursprünglich der Titel eines patriotischen Liedes des Musikers Irving Berlin (eigentlich Israel Isidore Berlin) 1918 geschirben und zwanzig Jahre später bearbeitet. Die bekannteste Version wurde von Akte Smith gesunden, wobei das Lied bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. Es hat sich zu einer zweiten (inoffiziellen) Nationalhymne entwickelt. Im April 1979 war Richard Nixon der erste Präsident das Zitat nachweislich in seine Rede einbaute. (3).

Zum Höhepunkt der Watergate-Affäre bat er das amerikanische Volk: »I ask for your prayers to help me in everything I do throughout the days of my presidency« und fügte anschließend die berühmten Worte hinzu. Reagan nutzte sie, und besonders häufig haben wir sie von Georg W. Bush in Erinnerung – doch auch sein Nachfolger steht ihm in dieser Hinsicht in nichts nach.

Bei den >Stars and Stripes< hat der Grafiker ganz offensichtlich geschlafen oder nicht genau hingesehen. Die mittels Flexodruck (ein Hochdruckverfahren mit Rollenrotation) aufgetragene Welle in der wehenden Fahne ist missglückt, sie ähnelt eher einem Hügel und die Falten sind sehr unsauber gezeichnet. Vom Schriftzug ganz zu schweigen, wobei die Schriftwahl vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. Es handelt sich hierbei um die ITC Zapf Chancery Medium Italic von 1979. In dem langen Nahmen stecken einige Informationen.

Mit dem Fotosatz, der die Lettern aus Blei ablöste und seit den 1960er Jahren immer größere Verbreitung fand, wurde das Fälschen von Schriften ein Kinderspiel. Eine Fotokamera reichte aus, um ein Alphabet festzuhalten und daraus einen neuen Schriftzug zu generieren, ohne jedoch dafür zu zahlen. Besonders betroffen von dieser Form der Piraterie war der deutsche Schriftentwerfer Hermann Zapf. Einige Jahre zuvor hatter er sich aus dem Business zurückgezogen und nur noch Aufträge für Exklusivschriften entgegengenommen. Die Regierung der Vereinigten Staaten half nicht beim Copyright-Schutz von Schriften, Namen ließen sich jedoch als Marken registrieren. (4) So entwickelte der New Yorker Schriftenbetrieb International Typeface Corporation ein ausgeklügeltes System: ihre registrierten Schriftnamen setzten sich aus dem Kürzel der Firma (ITC), oft auch dem Namen des Schriftentwerfers (Zapf) und dem eigentlichen Namen der Schrift (Chancery) zusammen. Chancery leitet sich in diesem Kontext aus einer berühmten kalligrafischen Handschrift der Renaissance ab: cancellaresca.

In der berühmten ITC-Hauszeitschrift Upper and lower case (U&lc, dt. Groß- und Kleinbuchstaben), widmete man sich der ITC Zapf Chancery im Jahr ihres Erscheinens einen Artikel samt einer achtseitigen Schriftmusterstrecke. Die Einführung Pow! Bam! Zapf! stammt vom bedeutenden amerikanischen Grafikdesigner, Schriftgestalter, ITC-Gründer und U&lc-Herausgeber Herb F. Lubalin. In seiner Lobeshymne auf die Schrift schreibt Lubalin in überschwänglicher Sprache: »Hermann Zapf […] has designed what ITC believes to be an effective chancery script, showing itself through Zapf’s virtuosity to be more capable of becoming a universally recognized hand than, perhabs, any other.« (5)

Erkannt und auserwählt hat zumindest Steve Jobs die ITC Zapf Chancery – genau genommen den halbfetten Schnitt kursiv, medium italic – als 1985 eine Handvoll Schriften für den Apple LaserWriter zusammenstellte. Spätestens seit seiner Rede auf der Stanford-Abschlussfeier 2005 wissen wir, dass Jobs’ Teilnahme an einem Collegekurs in Kalligrafie ihn dazu bewog, den ersten Mac mit zahlreichen Schriften auszustatten.

Als Systemschrift fand >Chancery< schneller Verbreitung und galt als generische Vertreterin für eine >kalligrafische Lösung<. Aus der achtseitigen Schriftmusterstrecke zur ITC Zapf Chancery in der U&lc-Ausgabe sei noch eine fiktive Anwendung erwähnt: Visitenkarten und Briefkopf für ein Unternehmen mit einem besonderen Geschäftsmodell: »Spezialising in flags«.

(1) www.google.com/patents/US5335788 (23.6.2015)
(2) Advance Polybag, Inc: www.apicorp.com, (28.6.2015)
(3) Billy Hallowell: The history behind U.S. presidents using 'God Bless America' in official speeches, 2014 veröffentlicht auf: www.theblaze.com (23.6.2015)
(4) Jerry Kelly: About more alphabets, The types of Hermann Zapf, New York 2011, S.55
(5) Herb Lubalin: Pow! Bam! Zapf! or, how to get the most out of ITC Zapf Chancery, in: Upper and lower case. The International journal of typographics, Ausg. 6, Nr. 2, New York 1979, S.36
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.46-49.