Prof. Anna Berkenbusch

Rechnungsblock

Beim Stöbern in meiner Alltagsdrucksachensammlung fiel mir neben dem Blatt mit den Gestaltungsrichtlinien für die Mitteleuropäische Schlafwagen- und Speisewagen-Aktiengesellschaft von 1986 auch ein kleines graues Blöckchen in die Hände, ein Mitropa-Rechnungsblock. Winzig im Format, kein Platz für üppige Gelage; grau und rau das Papier, und doch irgendwie fein mit roter Farbe bedruckt. Ob das Fundstück aus dem Speisewagen oder Autobahnraststätte stammt, kann ich nicht sagen. Für mich ist der Begriff unabdingbar mit der Transitstrecke von Helmstedt nach Berlin verknüpft; denn hier, nach langen Stunden des Wartens und Dahintuckerns auf holprogen Schlaglöcher-Straßen, gab es dann oft notgedrungen eine Pause in einer der Mitropa-Autobahnspeisegaststätten in Michendorf oder Magdeburg-Börde.

Hier wurden Speisen mit exotischen Namen wie Soljanka, Borscht oder Schnitzel Zigeunerart serviert, und meistens musste man warten, bis man gesetzt wurde, selbst wenn das Lokal gähnend leer war. Wagemutige, die sich einfach an einen leeren Tisch setzten, wurden mehr als grob zurechtgewiesen. Oft schätzen, von welchen Umständen eine schnelle oder langsame Bedienung abhing. Die Stimmung wirkete immer etwas gedämpft, niemand lachte oder sprach laut, alle duckten sich irgendwie weg. Die wenigen DDR-Bürger, die dort aßen, ignorierten wir mit verstohlener Neugier und umgekehrt.

Wenn der Laden komplett leer war, erschien mir die Atmosphäre am düstersten und meistens fühlten wir uns seltsam erleichtert, wenn wir nach dem Essen wieder im Auto saßen. Ich war jung, mit Freunden auf dem Weg nach Berlin, und wusste nicht viel über die DDR. Aber ein merkwürdiges Gefühl ist heute noch für mich mit der Erinnerung an die Mitropa-Gaststätten verbunden: eine diffuse Mischung aus Abenteuer und Bedrohung, mit der man sich die Ein- und Ausreise nach Berlien verdienen musste. Im Mitropa-Speisewagen saß ich damals nicht oft, aber ich erinnere mich die dunkelroten Waggons, das Mitropa-Geschirr und die Verpackungen, die nach dem Corporate Design der Mitropa gestaltet waren und mittlerweile leidenschaftlich gesammelt werden. Heute weiß ich, dass es die Mitropa schon seit 1916 gab und dass es sich folglich gar nicht um eine DDR-Marke handelte. Neben den Autobahnrestaurants gab es viele weitere Gastronomieunternehmungen (wie die Bewirtschaftung von Hotels, Kiosken, Schiffen, Bahngasthöfen), darüber hinaus sogar Mitropa-Frisöre und Reinigungsbrigaden.

Auf dem eingangs erwähnten Blatt über die Anwendungsmöglichkeiten der Marke wurden festgelegt, dass das Zeichen in den Farben »Rot UM 103 und Gelb UM 113 lt Uniset-Farbmischblock« mit verschiedenen Outlines, auch negativ in schwarzen Balken oder in roter Fläche, angewendet werden drufte. Das Bildzeichen der Mitropa, das auf dem kleinen Block gar nicht auftaucht, hat hier ein Rad mit sechs Speichen und stattdes ursprünglichen Adlers (mit Schwingen in Form eines Versal-M) nur das große M in der Mitte. Das zeichen wurde nach dem zweiten Weltkrieg modifiziert und ohne Adlerkopf über dem M weitergeführt. Das vierspeichige Rad unter dem M bekam noch weitere Speichen, damit es auch nicht im Entferntesten an ein Hakenkreuz erinnert.

Ein an die Mitropa-Schrift angelehnter Font, die FF Pulman, wurde 1997 von Johannes Erler digitalisiert und ist bei Fontshop erschienen; die ursprüngliche Schrift stammte von Karl Schulpig, der auch der Gestalter der Bildmarke war. Auf dem Blatt zur visuellen Erscheinung der Mitropa heisst es u.a. auch: »Die Richtlinie wendet sich nicht nur an jene, die in der Werbung und Öffentlichkeit tätig sind, oder an Mitarbeiter, die durch ihren täglichen Kontakt mit den Gästen und Reisenden wesentlich zur Rufbildung des Betriebes beitragen«.

Wahrscheinlich lag dem strengen Service-Personal in den Mitropa-Autobahnrastgaststättem damals noch keine Richtlinie über kundenfreundliches Verhalten vor. Die Rufbildung entsteht eben doch nicht nur durch ein kleines feines Mitropa-Blöckchen mit einer interessanten Schrift.

 

Albert Mühl: 75 Jahre Mitropa - Die Geschichte der Mitteleuropäischen Schlafwagen- und Speisewagen Aktiengesellschaft, Freiburg 1992

Johannes Plass/Heinrich Paravinci: Wer war eigentlich Karl Schulpig? Ãœber die Entwicklung der Bildmarken, in: Jahresheft des ADC: Sushi 6, Mainz 2004, www.mitropa-freunde.de
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.40-41.