Das Leben wird begleitet von visuellen Artefakten. Für die Organisation des Alltags benutzen wir Rechnungen, Ausweise und Eintrittskarten, Gebrauchsanweisungen und Kassenbons oft eher unbewusst und nebenbei. Belege werden für die Steuer gesammelt, Quittungen heben wir für den Umtausch auf und mit dem Reinigungszettel holen wir den Mantel ab.
Die Tagebücher meist älterer Menschen sind bisweilen gespickt mit Zeitungsausschnitten, Hochzeitseinladungen und Todesanzeigen. Sie dienen als Erinnerungshilfen und belegen, dass irgendetwas genau so, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit stattgefunden hat: die Hochzeit der Enkelin (Einladung), die Beerdigung des Nachbarn (Traueranzeige), der sechzigste Geburtstag von Tante Gerda (die Speisenfolge oder das Gedicht, das vorgetragen wurde), die Silberhochzeit (die Glückwunschkarten, die Rechnung der Gaststätte), die Gasexplosion in der Innenstadt (Zeitungsartikel) und so fort.
Ausweise und Formulare definieren die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wie zum Sportverein oder zu den Pfadfindern. Sie erzählen etwas über die Sprache einer bestimmten Zeit und über den alltäglichen Umgang mit Machtverhältnissen, Geschlechterrollen, Moden und gesellschaftlichen Konventionen. Solche Zeitzeugen in Nachlässen, Fotoalben und Tagebüchern scheinen wichtig zu sein, um den Alltag glaubhaft zu beschreiben, persönliche Erfahrungen aus dem Privaten herauszuholen und damit ein Stück Geschichte festzuhalten. Erinnerungen sind Teil der Gegenwart, und je älter ein Mensch wird, desto mehr spielen die Ereignisse der Vergangenheit eine Rolle; sie helfen in Zeiten der Krise und des Stillstands. Auch junge Menschen erinnern sich an eine tolle Abifahrt oder ein verregnetes Festival im Schlamm anhand von Konzertkarten oder Bierbons.
Warum sollte man den Alltag festhalten wollen? Wieso all diese scheinbar unbedeutenden Zettel aufheben? Viele der alltäglichen Drucksachen werden durch digitale Pendants ersetzt, und mit ihnen verschwinden die Auslöser von Erinnerungen. Ein Archiv für visuelle Alltagskultur kann Geschichte erlebbar machen. Anhand gesammelter Hintergrunderzählungen werden die gedruckten Zeitzeugen im Sinne von Oral History zu einem lebendigen Beitrag der Erinnerungskultur.
Als ich neulich in den noch nicht erfassten Einreichungen des Archivs etwas suchte, fiel mir der Wehrpass des Vaters eines Freundes in die Hände, auf dem Deckblatt mittig das schwarze Hakenkreuz, innen das Bild eines jungen Soldaten, Erich N. Fast ehrfürchtig hielt ich diesen Ausweis in den Händen, zusammen mit einer Suchanzeige, einem Formular, mit dem man nach dem Krieg eine verschwundene Person ausfindig machen konnte. Plötzlich wurde dieser Teil der deutschen Geschichte so greifbar, so nah, viel näher als durch einen Film oder ein Buch, und ich erinnerte mich an Erzählungen meines Vaters aus der Nazizeit. Die Beweisstücke machen auch Teile der Geschichte anschaulich, an die man sich nicht immer gern erinnert oder von denen man nicht einfach so erzählt: Notgeld, Pfandleihscheine, Lebensmittelkarten, Verordnungen, Gefangenschaft, Krieg.
Die Hintergründe der Exponate, die Informationen der Einreicher*innen zu den einzelnen Artefakten zu erfassen, ist neben der Archivierung der technischen Fakten (in Bezug auf Zeit, Papier, Schrift, Druckverfahren, Sprachduktus et cetera) ein wichtiger Teil der Arbeit im Archiv. Zum einen lohnt es sich, Hintergrundinformationen von Einreicher*innen in Bezug auf Zeugnisse der Oral History wertzuschätzen; zum anderen sind viele dieser Artefakte gerade auch für Designer*innen interessant, da sie durch gestalterische Mittel vom jeweils aktuellen Zeitgeist erzählen.
Vor ein paar Jahren gründete eine Seminargruppe an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle eine Sammlung von Alltagsdrucksachen. Anregung dazu gab ein Besuch bei Michael Twyman im »Archive of Ephemera Studies« der Universität Reading.
Daraus entstand die Bachelor-Abschlussarbeit Zettelwerk, Archiv für Alltagsdrucksachen der drei Studentinnen Sarah Fricke, Lisa Petersen, Lea Sievertsen, die dem Archiv den Namen »Zettelwerk« und ein visuelles Erscheinungsbild gaben.
Das Archiv für Alltagsdrucksachen hat mittlerweile Eingang gefunden in das Archiv für visuelle Alltagskultur, das neben gedruckten Zeitzeugen auch künstlerische Auseinandersetzungen mit solchen Kommunikationsmedien sammelt.
Ferdinand P. Ulrich
Ephemera Studies
Das Sammeln, Ordnen und Studieren von Alltagsdrucksachen ist eine vergleichsweise junge Disziplin, angesiedelt an Studiengängen, die kaum älter sind. 1962 erschien mit der Publikation Printed Ephemera. The changing uses of type and letterforms in English and American printing einer der frühesten Beiträge zu diesem Forschungsfeld im englischsprachigen Raum, in dem der Fachbegriff »Ephemera« (vom Griechischen ἐφήμερα, dt. für einen Tag, kurzlebig) geläufig ist. Herausgeber der Anthologie war der Drucker und Typograf John Lewis (1912–1996), der während seiner Lehrtätigkeit am Royal College of Art (1951–1963) begann, bis zu 400 Jahre alte Akzidenzen und seltene Schriftproben zu sammeln. Im Fokus seiner Untersuchungen stand die Forschungsfrage, wodurch sich alltägliche, scheinbar belanglose Zettel von bedeutenden Drucken dieser Zeit unterschieden.
Zu seinen Zeitgenossen, die mit vergleichbaren Sammlungen auf sich aufmerksam machten, zählte der Fotograf und Gestalter Maurice Rickards (1919–1998), als Vorreiter gilt der Drucker John Johnson (1882–1956), dessen beachtliche Sammlung in den Bodleian Libraries der University of Oxford zugänglich ist.[1] Von Rickards stammt die oft zitierte Definition »unbedeutender, vergänglicher Dokumente des Alltags«.[2] Früh bemühte er sich um die Anerkennung des Fachs an akademischen Einrichtungen und begann Mitte der 1970er-Jahre mit der Gründung der Ephemera Society. 1977 nahm Rickards zudem die Arbeit an dem umfangreichen Werk Encyclopedia of Ephemera auf, deren Fertigstellung er jedoch nicht erlebte. Erst zu Beginn der 1990er-Jahre gelang ihm mit der Unterstützung von Michael Twyman die Etablierung einer Stiftung sowie die Gründung des Centre for Ephemera Studies an der University of Reading in England. Twyman gehört dem Lehrkörper der Universität seit 1959 an und war maßgeblich an der Gründung des Studiengangs beteiligt, der sich in den 1970er-Jahren zum Institut Typography and Graphic Communication formte – es besteht bis heute unter diesem Namen. In über vierzig Jahren schuf das Institut zahlreiche Schnittstellen zur Wissenschaft und entwickelte dazu verschiedene Master-Studiengänge sowie einen PhD-Abschluss.
Seine Forschungsschwerpunkte fasst das Institut unter dem Leitgedanken »design for reading« zusammen (ein Wortspiel ist nicht beabsichtigt). Am Centre for Information Design Research werden Wissensvermittlung und die Gestaltung komplexer Informationen untersucht. So befasst sich Eric Kindel seit vielen Jahren mit der Bedeutung von ISOTYPE,[3] Sue Walker erforscht dazu im Besonderen das Werk Marie Neuraths, Chris Burke hat viele umfangreiche Beiträge über Schrift und Typografie in den 1920er-Jahren vorgelegt, Fiona Ross, Alice Savoie und Helena Lekka widmen ihre Forschungsaktivitäten aktuell dem Projekt Women in type,1910–90. Twyman, der einen Großteil seiner Lehre und Forschung in die Bedeutung lithografischer Druckverfahren investiert hat, ist bis heute – weit über seine Emeritierung hinaus – am Centre of Ephemera Studies aktiv. Durch sein Engagement wurde die Encyclopedia of Ephemera schließlich vervollständigt und veröffentlicht, ein Meilenstein in der jungen Disziplin.[4] Twyman betreut weiterhin die umfangreiche Ephemera-Sammlung am Institut, deren Kern die jeweils 20 000 Artefakte umfassenden Nachlässe von Lewis und Rickards bilden.
Für internationale Vernetzung und Austausch ist schon jetzt die digitale Zugänglichkeit zu solchen Sammlungen von großer Bedeutung. Das von Rob Saunders 2015 gegründete Letterform Archive in San Francisco hat mit seinem kürzlich veröffentlichten Online-Archiv gezeigt, wie so eine zeitgenössische Plattform aussehen kann. In der richtigen Mischung aus technischer Ausstattung und wissenschaftlicher Betreuung liegt die Zukunft dieser Einrichtungen.
Veröffentlicht auf Zettelwerk.com, April 2020
[1] Die John Johnson Collection of Printed Ephemera umfasst Anzeigen, Rechnungen, Veranstaltungsprogramme, Speisekarten, Grußkarten, Plakate und Postkarten aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, die in über 700 Kategorien sortiert sind. Siehe: www.bodleian.ox.ac.uk/johnson.
[2] Übersetzung des englischen Originals »minor transient documents of everyday life«, u. a. erwähnt im Nachruf auf Rickards von P. Robertson, in TheIndependent, 20. Februar 1998.
[3] Akronym für das von Marie und Otto Neurath ab 1925 entwickelte International System of Typographic Picture Education (ursprünglich unter dem Namen Wiener Methode der Bildstatistik).
[4] Vgl. Maurice Rickards und Michael Twyman (Hrsg.), Encyclopedia of ephemera. A guide to the fragmentary documents of everyday life for the collector, curator and historian, London und New York 2000
Anna Berkenbusch
Einfach nur Alltagsdinge
Bei der Bergung des Schiffes, das am 18.4.2015 vor der italienischen Küste im Mittelmeer gefunden wurde, starben fast 950 Menschen [1]. Im Heck fand man eine Zahnbürste und eine Reisetube Zahnpasta, Fotos, ein Portemonnaie, ein Marienbildnis, Geldscheine, SIM-Karten, eine Schokotörtchen-Packung, eingenähte Zeugnisse und kleine Säckchen mit Erde. Alles Hinterlassenschaften der Geflüchteten, die hier ertrunken sind. Die Bilder des Fotografen Mattia Balsamini aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung im Mai 2019 [2] haben mich sehr beeindruckt. Mehr als alles andere zeigen sie das Drama der Flucht und die dabei ertrunkenen Menschen, die uns durch diese Alltagsgegenstände plötzlich so nahe kommen. Die Namen sind weitgehend unbekannt, aber ihre Hinterlassenschaften erzählen Geschichten von Hoffnung und Sehnsucht, von Verlust, und auch von Versagen. Alle diese Fundstücke sind Symbole für die Hoffnung auf ein neues Leben in Europa, auf Zugehörigkeit, auf einen friedlichen, normalen Alltag ohne Gewalt.
Gegenstände, Verpackungen, Ausweise, Zeugnisse usf. geben Auskunft über das alltägliche Zusammenleben der Menschen, sie zeugen von Abläufen, Umgangsformen und wiederkehrenden Ritualen einer Gesellschaft. Es lohnt sich genauer hinzusehen und die Dinge wertzuschätzen, die diesen Alltag ausmachen. Oft sind sie lebendigere Zeitzeugen als nüchterne Fakten und Zahlen.
Vor einigen Jahren begründete eine kleine Gruppe von Studierenden der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle zusammen mit dem Designer Ferdinand Ulrich im Rahmen meines Editorial Seminars eine Sammlung von Alltagsdrucksachen. Inspiriert vom Archive of Ephemera Studies von Michael Twyman in Reading bei London begannen die Studierenden deutschsprachige Druckerzeugnisse aus den letzten 100 Jahren zu sammeln. Für mich, die ich seit vielen Jahren solche Belege, die den Alltag organisieren und begleiten, aufhebe, war es eine willkommene Gelegenheit hier meine persönliche Sammlung einzubringen. Interessant sind vor allem die Geschichten hinter den Einreichungen, die Fundorte, die Zeit, die Umstände des Fundes und des Gebrauchs. Es wurden erste Einreicherformulare entwickelt, Archivboxen für eine angemessene Lagerung angeschafft und zunächst vor allem im persönlichen Umfeld geforscht.
Die Sammlung wuchs und schnell fanden sich drei Studentinnen, die dieser Sammlung ihr Abschluss-Projekt widmen wollten. Im Rahmen einer Bachelor-Arbeit entstand aus der Sammlung das Zettelwerk, Archiv für Alltagsdrucksachen. Das Archiv bekam ein schlüssiges Erscheinungsbild, eine Internetpräsenz, eine Broschüre mit Miszellen, Postkarten und Plakate sowie professionelle Formulare für die Einreichungen und die Archivierung. Das Archiv war in der Vergangenheit mehrfach Thema in Lehrveranstaltungen: Exponate wurden auf Schrift, Produktionsart und Sprache analysiert.
Die Sammlung enthält derzeit an die 6000 Objekte verschiedener Kategorien, wie z.B. Ausweise, Werbung, Gebrauchsanweisungen etc. und die Zahl der Einreichungen wächst stetig weiter.
Aus der Sammlung soll nun im nächsten Schritt das Archiv für visuelle Alltagskultur entstehen; hier können auch andere Kommunikationsmedien gesammelt und archiviert werden, z.B. Verpackungen, Spiele, Filme, bzw. auch digitale Einreichungen, die allesamt langsam aus unserem Alltag verschwinden. Auch künstlerische Arbeiten, die sich mit alltäglicher Kommunikation beschäftigen und unseren Umgang damit reflektieren, finden im Archiv ihren Platz (wie z. B. die Masterarbeit von Lina Herschel: Tage ohne Lisa).
Das Archiv ist eine in Deutschland einzigartige Einrichtung, derzeit angesiedelt in der Bibliothek der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, ein Ort, an dem die Sammlung zu Studien- und Forschungszwecken für Studierende und Externe nach Absprache zugänglich ist. Die Arbeit ist work in progress, Studierende, Ehrenamtliche und Interessierte beschäftigen sich mit der Sammlung; finanzielle Mittel sind knapp. Eine langfristige Unterstützung des Archivs, die eine bessere Sichtbarkeit der Fundstücke auch über den Kunsthochschulkontext hinaus ermöglicht, wäre dem Projekt zu wünschen. Das Archiv ist ein spannender Ort, an dem sich Geschichte auf eine besondere Art durch sichtbare konkrete Objekte erschließt, mit interessanten, manchmal auch traurigen und dramatischen Erzählungen hinter den Dingen.
Veröffentlicht Januar 2020.
[1] Zu der Zahl gibt es in verschiedenen Medien unterschiedliche Angaben.
[2] »Was von ertrunkenen Flüchtlingen bleibt«, Margherita Bettoni und Lara Fritzsche; Fotoreportage »Von ganz unten«, Mattia Balsamini, Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 20/2019, 16. Mai 2019
Francis Hunger
Von der Tabelle zur Lochkarte
Die Grubenholz-Kubiktabelle (BI-108), herausgegeben 1897 in Berlin, gesetzt in Fraktur und Serifen, besteht aus zwei Spalten zur Beschriftung, jeweils links und rechts außen, sowie acht eng bedruckte innere Spalten, welche die Ergebniswerte in Kubikmeter mit einer Genauigkeit von vier Stellen nach dem Komma enthalten. Laut Wolfgang Schwärzler (www.wolfgangschwaerzler.de) könnte die Fraktur Ende des 19. Jahrhunderts von Johann Heinrich Geiger gestaltet wurden sein, es käme jedoch auch die Luthersche Fraktur in Betracht. Möchte ich die Kubikmeterzahl für Holz mit einem mittleren Umfang von 10 Zentimetern und einer Länge von 1,33 m finden, so streift mein Blick in die Zeile, die mit 1,30 beschriftet ist, dann tiefer zur 3, welche die 1,33 anzeigt, und ich erhalte den Wert von 0,0104 Kubikmetern. Ich stelle mir vor, wie Holz- und Grubenarbeiter oder deren Vorarbeiter im Wald stehen, oder am Stollen, und Stämme vermessen, das Heftlein aufschlagen und in der Tabelle nachsehen, über wieviele Kubikmeter Holz sie verfügen. Oder wie im Büro die Anzahl der Kubikmeter pro Stamm nachgeschlagen wird, um diese dann mit der Anzahl der Stämme und dem Preis pro Kubikmeter zu multiplizieren und potentiellen Abnehmern einen Preis offerieren zu können. Vielleicht hilft der Zeigefinger beim Finden der Zeile und beim Merken des Wertes, denn dazu ist die Tabelle im Unterschied zum Diagramm besonders geeignet: zum Auffinden einzelner Werte bei gleichzeitigem Überblick über die Gesamtheit.
Wahrscheinlich ist, dass der Wert, da er als Ausgangswert diente, in weitere Tabellen übertragen wurde, um Folgeergebnisse zu berechnen. An dieser Stelle wird bereits die immense Bedeutung der Tabelle deutlich, als Werkzeug »zwischen Anschauung und Denken« (Krämer 2012), als Kulturtechnik. Ihre Verwendung reicht mindestens bis 2500 vor unserer Zeitrechnung zurück, wo sie bei den Assyrern nachgewiesen ist, zur Aufzählung des Inventares des Königreiches: Kühe, Schafe, Menschen. Aus dieser Auf-Zählung der Besitztümer des Königs in tabellarischer Form wird die Er-Zählung; aus der Auf-Schreibung wird die Geschichts-Schreibung.
Es gilt, sich zu vergegenwärtigen, welcher Gegenstand abwesend ist und die Anwesenheit der Tabelle unabdingbar macht: der Taschenrechner. Mit dessen Aufkommen verringerte sich die Notwendigkeit gedruckter mathematischer Tabellen, denn nunmehr konnten von jederfrau und jedermann die benötigten Ergebnisse ad hoc, im Moment ihrer Notwendigkeit berechnet werden. Die Tabelle wurde nicht überflüssig, es verlagerte sich nur ihr Verwendungsbereich und Ihr Werkzeugcharakter verstärkte sich. Im Zuge der raumgreifenden Algorithmisierung der Welt tritt sie uns heute in Form von Programmen zur Tabellenkalkulation, in jeder Datenbank, und in vielfachen Visualisierungen entgegen.
Wir sehen sie so oft, dass wir sie nicht mehr sehen. Vor unseren Augen ist die Tabelle magisch transparent. Dies macht sich im gestalterischen Alltag bemerkbar: Hochgeschätzte Kolleg*innen, die mit Verve und viel Detail hochspannend über Buchgestaltung, Typografie oder Schriftgestaltung diskutieren können, haben zur Tabelle wenig zu sagen. Solitäre Publikationen wie Tufte (1983) und Few (2012) widmen sich ihr näher.
Der Schmutzumschlag der Grubenholz Kubiktabelle verkündet, dass Herr E. Behm, seines Zeichens »Geheimer expedierender Sekretär und Kalkulator im königlich preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten« deren Berechnung verantwortet. Wochenlang hatte Behm im Büro gesessen und jeden einzelnen der 320 Werte pro Seite berechnet. Zur Sicherheit rechnete er zweimal, oder überprüfte die Werte mit Hilfe der Differenzmethode, welche Charles Babbage als Grundlage seiner Difference Engine übernahm. Ein Schriftsetzer füllte, geübt in den Setzkasten greifend, Zeile für Zeile mit Ziffern und überließ die Andrucke Herrn Behm zur Korrektur, der wiederum jeden einzelnen Wert erneut kontrollierte, bevor das Werk in Druck gehen konnte. Das Fließband im Kopf des E. Behm liefert die Vorlage für mechanische Rechenmaschinen, die ab den 1940er Jahren elektronisch realisiert werden.
Um den elektronischen Rechnern, welche die menschlichen ersetzen, Daten zuzuführen, bediente man sich bis in die 1980er Jahre der Lochkarte, die dem damaligen Standard durch IBM entsprechend, ebenfalls in der Sammlung des Zettelwerkes vorliegt (SO–106). Die Niedersächsische Forstverwaltung erfasst mit ihrer Hilfe in tabellarisch gedrängter Form Daten wie Holzart, Menge und so weiter, und machte sie jener maschinellen Berechnung verfügbar, die zu Zeiten des Geheimrats Behm noch nicht existierte. Der Medientheoretiker Markus Krajewski hat argumentiert, dass die Tabelle die Daten durch räumliche Verteilung in Formation bringt, sie werden In-Formation. Durch eine Besonderheit ist die vorliegende Lochkarte für Menschen und für Maschinen lesbar: aufgedruckte Kategorisierungen formatieren und in-formieren dem menschlichen Auge durch Raumverhältnisse die Bedeutungsverhältnisse, und formatisieren durch maschinell auslesbare Ausstanzungen die Computerwirklichkeit, indem ein elektronischer Kontakt schließen und den Wert 1 und dessen Unterbrechung durch Papier den Wert 0 signalisieren kann.
Beide Dokumente, die Grubenholz-Kubiktabelle und die Lochkarte der Niedersächsischen Forstverwaltung sind Zeugen der langen Digitalisierung, die ihren Ausgang in der Erfindung räumlich organisierter hieroglyphischer Zeichen haben, noch vor dem Entstehen der Schrift und des Fließtextes hat.
Behm, E: Grubenholz-Kubiktabelle. Berlin: Julius Springer Verlag 1897 (Zettelwerk BI-108).
Lochkarte zur digitalen Erfassung der Landesforstverwaltung (Zettelwerk SO-106)
Few, Stephen: Show me the numbers. Analytics Press 2012.
Krajewski, Markus: Paper Machines – about Cards & Catalogs, 1548-1929. Cambridge, Mass: MIT Press 2011.
Krämer, Sybille: „Zwischen Anschauung und Denken – Zur epistemologischen Bedeutung des Graphismus“, in: Bromand, Joachim (Hrsg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 173–192.
Veröffentlicht auf Zettelwerk.com, 10. Oktober 2018
Lea Sievertsen
Geschichte der stillen Schätze
Kisten voller Gold und Silber, Edelsteine oder Schmuck adliger Damen. So stellt man sich vor, was bei Kriegen im Mittelalter neben Macht und Territorien erbeutet werden konnte. Eine besondere Beute aber war diese: eine Truhe voll von wichtigsten Staatsdokumenten. Solch ein Moment, auf den man bei der Recherche nach den Ursprüngen des heutigen Archivs trifft, ist dieser: Fréteval 1194, wo sich die Truppen Fréteval 1194, wo sich die Truppen des Königs von England, Richard Löwenherz, und Philipp Augustus von Frankreichs auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden. Philipp, der selbst schon einige Kilometer voraus auf der Flucht war, ließ den gesamten Bestand an französischen Urkunden sowie das königliche Siegel zurück, sodass Richard eine großartige Beute machen konnte. Dieser entdeckte in den Urkunden den Verrat seines Bruders, und auch Philipp zog eine wichtige Konsequenz aus diesem Verlust. Er schaffte die Tradition des Mitführens wichtiger Staatsdokumente ab und richtete einen sicheren Ort in Paris ein, an dem die Dokumente gelagert werden sollten. Diese Entscheidung markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Archivs, denn nun mussten die Papiere nicht mehr gemeinsam mit dem König reisen. Natürlich war dies nicht der Moment, in dem alle Akten Europas sofort in ein Archiv überwiesen wurden, dies war ein langsamer Prozess und auch einige Hundert Jahre später kam es noch zu Fällen, in denen wichtigste Dokumente unterwegs zerstört, verloren oder zurückgelassen wurden.
Andererseits führte die spätere Sesshaftigkeit des Archivs immer wieder zu Konflikten aller Art. In Deutschland kam es zu Erbteilungen in den verschiedenen Fürstentümern oder Herzogtümern. Hiervon waren nicht nur die Ländereien betroffen, sondern sämtliche Besitztümer, zu denen auch die Dokumente des Archivs gehörten. So wurden Archive immer wieder auseinandergenommen und aufgeteilt, teilweise ohne jeden Sinn, was zu einer großen Unordnung und fehlender Systematik in den Beständen führte. Gab es Dokumente, die nicht verteilt werden konnten, da sie doch für die ganze Familie zu bedeutend erschienen, wurden gemeinschaftliche Archive eingerichtet, über die mit großer Vorsicht gewacht wurde.
Die ernestinischen Herzogtümer, die im 15. Jahrhundert das damalige Sachsen regierten, hatten beispielsweise nicht einmal hundert Jahre nach ihrer Entstehung 1486 ihre Gebiete untereinander so stark aufgeteilt, dass es teilweise bis zu zehn Teilherzogtümer gab. Das gemeinsame Archiv, das die Familie sich in Weimar teilte, hatte für jedes Herzogtum ein Schloss an der Archivtür und diese konnte nur geöffnet werden, wenn alle Schlüssel vor Ort waren. Das Misstrauen unter den einzelnen Familienmitgliedern und der Wert des Archivs als Machtsymbol waren groß.
Der Vorgang des Archivierens ist etwas, das schon mindestens seit der Antike Bestandteil menschlicher Kulturen ist, das Sammeln als solches reicht bekanntlich noch viel weiter zurück. Wichtig ist aber, das die Handlung des Archivierens, also das Ordnen, Organisieren und Aufbewahren von Schriftstücken, schon wesentlich länger Bestandteil der Kulturgeschichte ist als das Archiv im Sinne des Ortes oder Gebäudes. Mit der stärker werdenden Verschriftlichung der europäischen Gesellschaft gewinnt auch das Archiv an Bedeutung. Nicht nur, dass das Reisen mit Dokumenten gefährlich war, es wurde auch immer schwieriger, der Masse an Dokumenten Herr zu werden. Der Umgang mit Dokumenten wurde zu einem Bestandteil des alltäglichen Lebens, und alle wichtigen Vorgänge, vor allem Staat, Gesetz und Kirche betreffend, wurden schriftlich fixiert. Dass originale Schriftstücke so wertvoll waren, dass sie aufgehoben werden mussten – zur Geschichtsschreibung, aber vor allem zur Sicherung und als Beweis juristischer Vorgänge, von Verträgen oder sozialen Beziehungen – ist eine Idee, die sich bis in die gegenwärtige Kultur durchgesetzt hat. Wie wichtig ist es heute für jeden Einzelnen, Dokumente wie die Geburtsurkunde, Zeugnisse oder Finanzunterlagen sorgfältig im eigenen Aktenordner aufzubewahren.
Neben den Dokumenten, die den Menschen wertvoll und aufbewahrungswürdig erschienen, wurden auch andere Papierformen geschaffen, die nur für einen kurzen Gebrauch bestimmt und nicht dafür gedacht waren, in die Archive zu gelangen. Dinge wie Notizzettel oder Besorgungslisten wanderten in den Müll, machten aber doch einen wichtigen Teil der damaligen wie der heutigen Schriftkultur aus. Es lässt sich hier also festhalten, dass nicht jedes Schriftdokument automatisch einen Wert hatte und die Geschichte der Textdokumente nicht unbedingt mit der des Archivs einhergeht. Das jeweilige Ablagesystem oder Platzmangel konnten ebenfalls die Auswahl an Archivalien beeinflussen.Vieles lässt sich gerade an den Lücken, die durch diese Art der Selektion entstanden, über die Kultur und die Menschen ablesen.
Trotzdem wurde die Zahl der aufzubewahrenden Dokumente ab dem 12. Jahrhundert immer größer. Bei juristischen Prozessen wurde nicht mehr nur das Urteil festgehalten, sondern auch nach und nach jeder Einzelschritt dokumentiert. Tatbestände, Urteile oder die Abläufe von Entscheidungsprozessen mussten fixiert werden, um so dauerhaft zur Erinnerung und Einsicht zur Verfügung zu stehen und Gültigkeit zu bewahren. Dass die Erfindung des Papiers zu diesem Zeitpunkt Europa erreichte, trug nicht unerheblich zu dieser „Explosion von Schriftlichkeit“ bei. Nicht nur die Verwendung von Dokumenten veränderte sich, es war auch der Umgang der Menschen mit diesen. Schriftlichkeit wurde zu einem Vertrauensbeweis. Rechenschaft über Entscheidungen abzulegen und diese festzuhalten, veränderte sogar die Form des Regierens. Reine Machtausübung wurde zum kontrollierten Herrschen. Die Gesellschaft entwickelte den Hang, alles zu protokollieren und durch das Festhalten auf Papier zu kontrollieren. So kritisierte noch in den 1960ern der kanadische Philosoph Marshall McLuhan, dass der Mensch sich durch die Verschriftlichung der Gesellschaft zu sehr von seinen intuitiven Fähigkeiten distanziere und seine visuelle Wahrnehmung nicht mehr hinterfrage.
Das Archiv als Ort des Festhaltens, des Wissens und der Erinnerung ist immer in Veränderung und Bewegung. Es bedarf ständiger Sorgfalt und Pflege und einer Person, die sich der Ordnung (oder der Unordnung) annimmt und den Überblick behält. Archive sind keine natürlichen Prozesse, es wird immer jemand benötigt, der ermöglicht, dass sie ihrer Funktion entsprechend nutzbar sind.
Archivare waren bis mindestens in das 14. Jahrhundert Personen, die die Verantwortung für das Archiv neben anderen Berufen ausübten, sodass das Archivieren eher eine Art der Nebentätigkeit war. Mit zunehmender Größe und Institutionalisierung der Archive wurde hier aber auch erkannt, dass man eine Person benötigte, die sich in System und Logik der sortierten Dokumente auskannte und diese pflegte. Ein Archivar musste vertrauenswürdig und loyal sein und häufig kam es zu Problemen bei der Personenwahl, denn die Verwaltung der Dokumente war eine äußerst wichtige Angelegenheit. Ein guter Umgang mit Schrift und ein gewisser Bildungsgrad waren vorausgesetzt, musste ein Archivar doch in den alten Schriften lesen können, um geeignete Akten herauszusuchen, sollten diese zum Beispiel bei juristischen Entscheidungen gefordert sein. Wenn man in diesem Bereich eine Begabung mitbrachte, konnte man in der Gesellschaft aufsteigen und auf eine gute Bezahlung hoffen, denn für die Arbeitgeber war man von größtem Nutzen. Im Kontrast dazu schaffte aber beispielsweise der französischen Hof um 1700 auf der Suche nach neuen Geldquellen die Möglichkeit für gut situierte Bürger, sich nach Belieben ein Staatsamt zu kaufen. Dadurch ging auch die Führung eines Archivs häufig nicht damit einher, dass eine besonders qualifizierte Person in dieser Position zu finden war. Dieses Vorgehen führte zu Chaos in den Archiven, denn die Ausführung der Aufgaben wurde nicht unbedingt verantwortungsvoll oder mit großem Interesse verfolgt.
Auch war das Ansehen des Berufs in der frühen Neuzeit nicht unbedingt entsprechend seiner Wichtigkeit und Verantwortung. Die Vorstellung eines einsamen Mannes im Gewühl tausender alter Papiere schien den meisten Leuten wohl als zutreffendes Bild des Archivalltags. Auch heute noch ist der Beruf verknüpft mit der Vorstellung von einer zurückgezogenen und etwas schrulligen Person. Archivare sind aber nicht nur mit der Sortierung von Akten beschäftigt, sondern tragen auch als Gelehrte einen großen Dienst zu Geschichtsschreibung und Wissenschaft bei. Wenn sie nicht selbst als Historiker tätig sind, so unterstützen sie diese bei der Recherchearbeit mit den richtigen Dokumenten.
Dieses ideale Bild der Zusammenarbeit trifft und traf natürlich nicht immer zu. Es lassen sich viele Geschichten über Schwierigkeiten beim Benutzen von Archiven finden. Bis in das 19. Jahrhundert war es, vor allem für Historiker, äußerst kompliziert, den Zugang zu Archiven gewährt zu bekommen. Niemand wusste über alle Akten, die sich im eigenen Archiv befanden, genau Bescheid, und dieser Überraschungseffekt hatte schon zu mehr oder weniger erwünschten Entdeckungen geführt. Aus Angst vor diesen zufälligen Funden wurde das Erlangen der Zugangserlaubnis häufig zu einer mühsamen und schwierigen Angelegenheit. Besuche mussten Jahre im Voraus geplant, Erkundigungen über die Bestände eingeholt und soziale Beziehungen ausgenutzt werden. Sogar Bestechung und Täuschung waren übliche Verfahren, um sich Zugang zu verschaffen. Besonders ambitionierte Historiker legten sich falsche Identitäten zu, um ihre Forschungen vorantreiben zu können. Auch die Benutzung selbst konnte durch versteckte Verzeichnisse oder unmögliche Arbeitsplätze in den kleinsten und dunkelsten Räumen erschwert werden.
Für die Arbeit des Historikers aber war das Archiv als Quelle unumgänglich, denn zu dieser Zeit war die Nähe zum Original etwas, auf das man sich bei seiner Forschung vertrauensvoll berufen konnte, und welche das Ansehen der eigenen Theorien enorm verstärkte.
Eine Sichtweise, die damals schon unter einigen Historikern umstritten war, denn inwiefern die Dokumente wirklich wahrheitsgemäß und korrekt über Umstände der Vergangenheit berichteten, wurde stark diskutiert, und die auf archivalischer Arbeit basierende Geschichtsschreibung befand sich in der Kritik.
Auch nach der Demokratisierung der Archive durch die französischen Revolution, während der sie zu staatlichen Institutionen für die Öffentlichkeit wurden, bleibt diese Kritik bis heute bestehen. Foucault versteht 1969 unter dem Begriff des Archivs nicht mehr die Tätigkeit des Sammelns oder Aufbewahrens von Dokumenten, sondern den Rahmen oder die Bedingung für historische Aussagen. Archive sind seiner Idee nach Systeme für das, was in einer Kultur gesagt werden durfte, und gleichzeitig auch für das, was nicht erwähnt werden sollte.
Archive sind immer gleichzeitig Orte der Geschichte und der Zukunft. Nie kann man genau wissen, welche Dokumente von Nutzen sein können und wie sich ihr Wert verändern wird. Etwas, das heute als unbrauchbar oder überflüssig erscheint, könnte in 100 Jahren von großem Wert für den Nutzer sein. Je nach Gebrauch des Archivs tun sich immer wieder neue Möglichkeiten für Suchkriterien oder zur Erforschung auf. Sie müssen flexibel bleiben und sich durch immer wieder neue Interessen ihrer Umwelt verändern. Die Bestände können auch in Zukunft noch zu ungeahnten Schätzen werden.
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.22-24.
Sarah Fricke
Von der Reliquie zum Event
Um einen Überblick über die Geschichte der Sammlung und der Entstehung von Museen zu geben, ist es sinnvoll, mit einer Definition des Sammelns zu beginnen. Krzysztof Pomian gibt diese in dem von ihm verfassten Standardwerk „Der Ursprung des Museums – vom Sammeln“. Eine Sammlung sei jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, „die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können“.
Mit der Aufnahme in eine Sammlung erfährt ein Objekt eine Wertung im doppelten Sinne: Eine Aufwertung, weil es über andere Dinge, die nicht Teil einer Sammlung sind, erhoben wird, eine Umwertung, weil es aus einem Gegenstand des Gebrauchs zu einem der Anschauung wird. Obwohl den Objekten jeglicher Gebrauchswert verloren geht, bleibt ein Tauschwert vorhanden, der häufig höher ist als der eines praktischen Gegenstandes. Diesen Wert erklärt sich Krysztof Pomian im ideellen Wert des Sammelobjekts, das als Kommunikationsmittel zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren fungiere. Das Objekt repräsentiert somit beispielsweise das Ferne, das Mystische, das Vergangene oder Unbekannte. Diese Funktion als Mittler zwischen zwei Welten haben laut Krzysztof Pomian alle Sammlungsobjekte gemein. Die Reliquien, die als Medium zwischen der irdischen und der göttlichen Welt dienen, Kunstwerke, die den Betrachter an einem vergangenen Moment oder der Phantasie eines Künstlers teilhaben lassen, oder Exotika, die als Zeugnisse einer anderen Kultur Ferne repräsentieren.
Anke te Heesen sieht in der Sammlung mehr als einen Ort der Visualisierung der Objekte, da die Sammlung stets auch eine soziale Funktion gehabt und Machtbestrebungen gedient habe. Die prestigeverleihende Eigenschaft einer Sammlung zeigt sich in mehreren Aspekten. Zum einen bedarf es eines finanziellen Überschusses, um Gegenstände dem ökonomischen Kreislauf zu entziehen, zum anderen zeugen Sammlungen von Geschmack, der intellektuellen Neugier und dem Forschungsdrang ihres Besitzers.
Die ersten Sammlungen befanden sich im Besitz religiöser Institutionen und der staatlichen Obrigkeiten. Im antiken Griechenland waren das die Sammlungen, die durch Opfergaben in den Tempeln entstanden, und in Rom, die durch Kriegsbeute zusammengetragenen Schätze der römischen Kaiser. Im Mittelalter war es die christliche Kirche, die durch die Verbreitung des Heiligenkults den blühenden Handel mit Reliquien auslöste. Den Reliquien – Körperteile beziehungsweise Gegenstände, die in Berührung mit einer Gestalt aus der Geschichte der Heiligen gekommen waren – wurden heilende und schützende Kräfte nachgesagt. Darüber hinaus heiligten sie den Ort, an dem sie sich befanden, und sorgten für den Beistand der Heiligen. Kirchen und Klöster, aber auch Adelige beteiligten sich an der Jagd nach Reliquien, die nach den Kreuzzügen und dem erleichterten Zugang zum Nahen Osten einen Höhepunkt fand. In eigens zu ihrer Verwahrung gefertigten Schreinen wurden sie bei religiösen Zeremonien ausgestellt oder auf Prozessionen mitgeführt. Die Gläubigen reisten oft von weit her, um durch die Berührung des Reliquienschreins eine Heilwirkung, Linderung oder Wohlergehen zu erfahren. Doch nicht nur Reliquien waren begehrte Sammlungsstücke, auch kostbare Gefäße, Juwelen und Objekte sagenhafter Herkunft – Gegenstände, die die Schönheit Gottes Schöpfung widerspiegelten – wurden durch Kirchenfürsten, Kardinäle, Bischöfe, Äbte und Adelige gesammelt.
Für die Ausdehnung der Sammeltätigkeit im 16. Jahrhundert waren mehrere Faktoren ausschlaggebend. Mit der Entdeckung und der Erforschung neuer Kontinente machte sich ein Forschungsgeist breit, der aus dem Schatten der Lehre antiker Schriften trat. Die Entdeckung der neuen Welt hatte viele Fragen aufgeworfen, auf die die alten Schriften keine Antworten zu geben wussten, und technische Neuerungen im Bereich des Buchdrucks und des Schiffbaus hatten den Austausch von Waren und Informationen erleichtert. Durch die Erschließung neuer Kolonien und neuer Handelsrouten hatten es im 16. Jahrhundert einige Staaten, unter ihnen Venedig und die Niederlande, zu beachtlichem Reichtum gebracht. Ein finanzieller Überschuss, der eine wichtige Voraussetzung für das Aufblühen der Sammelkultur darstellte, hatte sich in einigen Gesellschaftsschichten gebildet. Nun waren es nicht nur der Klerus und Adel, die private Sammlungen anlegten, sondern auch die Gelehrten und die wohlhabende Patriziergesellschaft. Das private Kuriositätenkabinett, in dem Naturalia, Raritäten und Exotika – Boten einer fernen Welt – dargeboten wurden, gehörte für den gebildeten Patrizier der Renaissance bald zum guten Ton. Interesse fanden gerade die Objekte, die in der aktuellen Ordnung der Welt noch keinen Platz gefunden hatten: Einhörner, Drachen und anderes Kurioses, „deren mögliche Existenz anzunehmen Ausweis von Wissenschaftlichkeit war“. Sammlungsobjekte aus Kunst und Wissenschaft, Exotika, Antiquitäten und Naturalia wurden Kennzeichen einer sozialen Zugehörigkeit und für die Machthabenden Symbole ihrer Überlegenheit.
Eine weitere zeitgeschichtliche Komponente spielte eine Rolle bei der Bildung privater Sammlungen: War das mittelalterliche, christliche Denken auf das Leben nach dem Tod gerichtet gewesen, fand im 16. Jahrhundert eine Hinwendung zum Diesseitigen statt. Kunst und Literatur thematisierten die Vergänglichkeit aller Dinge. In Vanitas-Stillleben wurden drapierte Gegenstände durch Sinnbilder der Endlichkeit ergänzt – Sanduhren, Totenschädel und erloschene Kerzen. Die Fokussierung auf das irdische Leben legitimierte das Sammeln als Ausdruck praktischer Theologie – die Suche nach dem Göttlichen in seiner irdischen Schöpfung. Die Sammlung beinhaltete auch den Wunsch ihres Besitzers nach einem Stück individueller Ewigkeit. Dem gleichen Wunsch folgend, gaben Fürsten und Staatsoberhäupter Bilder in Auftrag, die ihre Heldentaten für die Nachwelt sichtbar machen sollten und in Sammlungen aufbewahrt wurden.
Bis ins 17. Jahrhundert hinein, existierten Sammlungen meist nur im Privaten. Ihr Zugang beschränkte sich auf eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung, dem Großteil der Öffentlichkeit blieb er jedoch verschlossen. Eine Ausnahme bildeten lediglich die kirchlichen Sammlungen. Es waren die Mitglieder des Bürgertums, die im 17. und 18. Jahrhundert begannen Druck auszuüben und die die Entstehung erster öffentlicher Bibliotheken, im 18. Jahrhundert auch öffentlich zugänglicher Museen erwirkten.
Ein Wandel im Sammlungswesen wurde mit dem Einsetzen der Aufklärung und dem Aufstieg der Akademien spürbar. Hatten die chaotischen und universellen Sammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts versucht, die Grenzen des Wissens in Frage zu stellen, so hatten die Sammlungen des 18. Jahrhunderts einen wissenschaftlich systematisierten Ansatz, der genaue Kategorisierung und Ordnung vorsah. Dinge sollten entsprechend ihrer hierarchischen Stellung oder zeitlichen Abfolge geordnet werden. Sammlungen spezialisierten sich zunehmend auf Teilgebiete und setzten sich eine umfassende Klassifizierung der Natur und Kunst zum Ziel, die jedem Objekt seinen Platz im System zuweisen sollte. Innerhalb von 200 Jahren waren die chaotischen Wunderkammern, in denen Monstrositäten und Mythen ihren Platz gefunden hatten, einer Wissenschaftlichkeit und Systematik gewichen, welche die Annahme illustrierte, dass nichts mehr außerhalb des menschlichen Verstandes lag.
Im 19. Jahrhundert wurden Museen und Sammlungen zu festen kulturellen Institutionen, die zunehmend einen erzieherischen und volksbildenden Charakter erhielten. Museen wurden zu einem politischen Instrument, das es der Regierung erlaubte, die nationale Geschichte in ein glorreiches Licht zu rücken oder neu zu schreiben. Nationalmuseen veranschaulichten die Traditionen und Volkskultur eines Landes, das sich nicht selten selbst an die evolutionäre Spitze stellte – „die Nation (…) bringt sich selbst eine permanente Huldigung dar, indem sie ihre Vergangenheit (…) feiert“.
Welche Bedeutung Museen und Sammlungen zum Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts haben, zeigt sich an ihrer derzeitigen Beliebtheit. Heute kommt ihnen nicht mehr nur eine bildende und aufklärende Funktion zu, vielmehr erlangen die Ausstellungen zunehmend den Charakter eines Events. Gefragt sind sogenannte Blockbuster, deren Bedeutung an der Länge der Besucherschlangen gemessen wird. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass sich daneben eine Museums- und Ausstellungskultur bilden konnte, die sich gesellschaftlicher Fragen, regionaler Besonderheiten, spezieller Kunstrichtungen und der Vielfalt kultureller Alltagserscheinungen widmet, sodass jenseits der großen Besucher- und Geldströme ein Diskurs über den gesellschafts- und bildungspolitischen Stellenwert von Ausstellungen eröffnet wurde.
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.25-27.
Lisa Petersen
Reklamemarke
Wie wertvoll eine Sammlung ist, hängt von ihren Objekten ab. So galt es schon im Mittelalter als besonders erstrebenswert und hoch angesehen, eines der seltenen Einhornhörner sein Eigentum nennen zu können. Ein Exponat, welches von einem so großen Mythos umgeben war, dass selbst naturwissenschaftliche Erkenntnisse zunächst nicht dessen Authentizität anzweifeln ließen.
Es hieß, dass das Horn eine heilkräftigende Wirkung habe. Grund genug aus diesem Becher, hoheitliche Schmuckstücke oder Medikamente herzustellen. Die wilde und scheue Art des selten vorkommenden Tieres machte die Beschaffung des Horns besonders schwierig und den Besitz umso wertvoller. Im Physiologus, einem anonymen Text der Spätantike, wurde das Bild geprägt, dass nur eine Jungfrau das eigensinnige Tier zähmen könne. Eine Szene, die lange in Illustrationen aufgegriffen wurde.
Die Illustratoren stellten die Existenz des Einhorns in keiner Weise in Frage, sondern festigten mit ihrer Kunst den Glauben an das Fabelwesen in der Gesellschaft. Verschiedene Reiseberichte aus fernen Ländern sorgten dafür, dass das Einhorn wiederholt bildlich dargestellt wurde. Letztlich nahmen sogar Verfasser naturkundlicher Werke das Einhorn in ihre Titel auf. Nicht einmal die Wissenschaft zweifelte den Ursprung des Horns mehr an.
Der naturwissenschaftliche Fortschritt führte aber auch zu neuen Kenntnissen über andere Lebewesen wie zum Beispiel den Narwal, der als gehörnter Fisch bekannt wurde. Ein spiralförmiges Horn zierte seinen Kopf. Eine Verbindung zwischen diesem und der in den Sammlungen vorhandenen Hörnern des Einhorns wurde dabei übersehen. Beide Tiere erhielten ihre absolute Berechtigung in zoologischen Publikationen und wurden sogar in gemeinsamen Kategorien erwähnt.
Als schließlich der Grönlandexperte Ole Wurm einen Narwalzahn mitbrachte und somit ein direkter Vergleich mit den vermeintlichen Einhörnern stattfinden konnte, wurde zum ersten Mal die Existenz des Tieres widerlegt. Eine Erkenntnis, welche aber keinesfalls sofortige öffentliche Zustimmung fand. Man wollte den Mythos um das wundersame Tier nicht einfach aufgeben. Auch ein späterer Knochenfund bei Quedlinburg wurde als Beweis eines einst real existierenden, aber schon ausgestorbenen Wesens gedeutet, dem Einhorn. Unter Sammlern waren die Fossilien direkt begehrt. Im Jahr 1758 veröffentlichte Carl von Linné die erste wissenschaftliche Beschreibung des Narwals. Der Bericht klärte die wahre Herkunft des Einhorns und räumte mit den Mythen auf. Dem Horn wurde seine heilkräftigende Wirkung abgesprochen und das Exponat als Sammlerobjekt verlor an Wert und Einzigartigkeit. Man kann vermuten, dass gerade deswegen so lange an dem Mythos um die Existenz des Einhorns festgehalten wurde, schließlich war der Wert der eigenen Sammlung in Gefahr.
Dennoch ist der Wunsch nach dem Glauben an das Einhorn, auch nachdem die Wahrheit ans Licht kam, nicht ganz verschwunden. Es erlebt eine Wiedergeburt im modernen Zeitgeist. In jedem Spielzeugladen gehört es zum festen Bestandteil des Sortiments, aus Märchen und Fantasygeschichten ist es nicht wegzudenken. In Filmen und Comics wird es zur Hauptfigur oder flimmert uns auf den Bildschirmen entgegen – singend, glitzernd und auf einem bunten Regenbogen galoppierend.
Helas, Philine: Der „See-Einhorn-Fisch“. Ein Tier zwischen Legende und Naturwissenschaft, in: Assoziationsraum Wunderkammer, Halle 2015
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.44-45.
Anne Sievertsen
Verpackungspapier
Ich erinnere mich an das Jahr 1934, wenn ich dieses Papier in die Hand nehme. Damals war ich fünf Jahre alt. Ich hatte Scharlach und wurde für vier Wochen zur Erholung geschickt. Vater musste auch einige Male zur Erholung und schickte mir von dort immer Post. Deswegen musste ich schnell lernen, ihm Dankesworte zu schicken, und meine Tante Magda, die damals bei uns lebte, übte mit mir. Auf der Fahrt in das Erholungsheim lernte ich einen Jungen namens Klaus kennen. Er war in einem anderen Heim, aber auf der Hinfahrt mit dem Zug hat er die ganze Zeit auf mich aufgepasst.
In dem Heim war alles ein bisschen primitiv. Ein großer Schlafraum, ein Klo. Während der vier Wochen Aufenthalt hatte meine Tante mir einmal ein Paket geschickt, da war ein Ball drin. Der war hellblau mit goldenen Sternen, das weiß ich noch ganz genau. Und dann hatte ich damit, ich war ja noch ansteckend und musste immer für mich alleine auf dem Balkon bleiben, gespielt und der Ball fiel runter. Ich durfte gemeinsam mit der Erzieherin runtergehen und ihn suchen, aber dann war er weg. Da hatte ihn gleich jemand geschnappt. Eine Nacht war so ein fürchterlicher Sturm und am Strand war sehr viel kaputt gegangen. Unser Heim war direkt hinter einer Mauer und am nächsten Morgen waren unsere Betten ein ganzes Stück von der Wand weggerückt. Wir wurden morgens alle wach und guckten uns diese Lücke zwischen Bett und Wand an.
Ich war mal mit Mutter in Hamburg davor, aber sonst verreisten wir nicht. Nur einmal sind wir mit unserer Nachbarsfrau, sie hatte auch zwei Kinder, mit den Rädern nach Flensburg gefahren und dann mit dem Schiff rüber nach Glücksburg. Das war ein Ereignis zu der Zeit, so weit kam ja fast keiner, Bauernkinder schon gar nicht.
Ich bekam während der Erholung keinen Besuch. Das konnte sich keiner leisten und alle hatten auch zu Hause viel zu viel zu tun, da hatte keiner Zeit dazu, wegen unserem Laden und der Landwirtschaft. Der Vorbau für unseren Laden war damals aus Holz, es gab eine Veranda und da war ein großer Kanister mit einer Pumpe, in der Petroleum drin war. Da hatten ja noch viele hier keinen Strom und wir belieferten alle. Das brauchten ja alle für ihre Lampen oder die Laternen in den Kuhställen. Es war immer ein Schweinkram, wenn wir auf Tour fuhren mit diesen Kannen, die hatten manchmal nicht so dichte Schrauben und es gab ja noch keine Plastiktüten. Ich erinnere mich an die Anlieferung und an das Pferdegespann. Zwei tolle schwere Pferde mit Messinggeschirr. Ganz wunderschön. Oma gab dem Fahrer immer ein Frühstück. Deutsches Beefsteak, eigentlich gebratenes Hackfleisch. Nachher wollte ich das immer zu Weihnachtsabend haben, das muss für mich etwas ganz Besonderes gewesen sein. Im Laden musste ich erst später mithelfen, so mit 14, aber zuerst waren meine Tante und meine Oma da und deshalb war das nicht nötig. Wir Kinder hier in Westerholz haben viel gespielt, Hütten im Holz gebaut und all so Kram. Da fuhren hier noch keine Wagen, wir konnten überall rumlaufen und keiner musste Angst haben, dass etwas passierte. Das war so viel Freiheit hier.
Ich war aber nicht traurig, als ich dann in die Schule musste. Ich hab mich so auf die Schule gefreut. Ich bin mit ganz großen Erwartungen hingegangen und hatte auch immer Lust. Neulich hab ich ein Heft meiner Lehrerin gefunden, die schrieb immer Gedichte oder Geschichten für uns zum Geburtstag. Das war immer ein Ereignis. Morgens kam sie mit einer kleinen goldenen Glocke. Sie ging durch die Klasse und klingelte bei dem, der Geburtstag hatte, über dem Kopf und es wurde ein Lied gesungen. Das vergaß sie nie.
Damals war Beiderwandstoff modern, das war ein Webstoff. Er war schön warm und aus reiner Wolle. Man brauchte hier ja warme Kleidung. Ich hatte einen neuen Trägerrock gekriegt, der war grün und schwarz und gelb und weiß gestreift. Da kam ich einen Tag mit meinem neuen Rock zur Schule und da hatte meine Lehrerin genau den gleichen Rock an. Komisch, dass man sowas Nebensächliches nicht vergisst. Das muss im ersten Schuljahr gewesen sein.
Auch Schreibenlernen war nicht schwierig. Vorher übte ich mit Tante Magda Buchstaben und auch das ABC konnte ich ganz früh, sie brachte es mir mit einem Reim bei. Aber den weiß ich nicht mehr. Tante Magda hat erst sehr spät geheiratet und hatte viel Zeit für mich, als ich ein kleines Kind war. Sie brachte mir auch das Sticken bei. Das Nähgarn gab es bei uns im Laden zu kaufen, es wurde ja damals alles noch von Hand genäht. Vom Gögginger Nähgarn habe ich heute noch die Kisten, die damals in unserem Laden standen, in denen ich Dinge wie Kerzen aufbewahre und einige der alten Garnrollen.
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.18-19.
Prof. Anna Berkenbusch
Rechnungsblock
Beim Stöbern in meiner Alltagsdrucksachensammlung fiel mir neben dem Blatt mit den Gestaltungsrichtlinien für die Mitteleuropäische Schlafwagen- und Speisewagen-Aktiengesellschaft von 1986 auch ein kleines graues Blöckchen in die Hände, ein Mitropa-Rechnungsblock. Winzig im Format, kein Platz für üppige Gelage; grau und rau das Papier, und doch irgendwie fein mit roter Farbe bedruckt. Ob das Fundstück aus dem Speisewagen oder Autobahnraststätte stammt, kann ich nicht sagen. Für mich ist der Begriff unabdingbar mit der Transitstrecke von Helmstedt nach Berlin verknüpft; denn hier, nach langen Stunden des Wartens und Dahintuckerns auf holprogen Schlaglöcher-Straßen, gab es dann oft notgedrungen eine Pause in einer der Mitropa-Autobahnspeisegaststätten in Michendorf oder Magdeburg-Börde.
Hier wurden Speisen mit exotischen Namen wie Soljanka, Borscht oder Schnitzel Zigeunerart serviert, und meistens musste man warten, bis man gesetzt wurde, selbst wenn das Lokal gähnend leer war. Wagemutige, die sich einfach an einen leeren Tisch setzten, wurden mehr als grob zurechtgewiesen. Oft schätzen, von welchen Umständen eine schnelle oder langsame Bedienung abhing. Die Stimmung wirkete immer etwas gedämpft, niemand lachte oder sprach laut, alle duckten sich irgendwie weg. Die wenigen DDR-Bürger, die dort aßen, ignorierten wir mit verstohlener Neugier und umgekehrt.
Wenn der Laden komplett leer war, erschien mir die Atmosphäre am düstersten und meistens fühlten wir uns seltsam erleichtert, wenn wir nach dem Essen wieder im Auto saßen. Ich war jung, mit Freunden auf dem Weg nach Berlin, und wusste nicht viel über die DDR. Aber ein merkwürdiges Gefühl ist heute noch für mich mit der Erinnerung an die Mitropa-Gaststätten verbunden: eine diffuse Mischung aus Abenteuer und Bedrohung, mit der man sich die Ein- und Ausreise nach Berlien verdienen musste. Im Mitropa-Speisewagen saß ich damals nicht oft, aber ich erinnere mich die dunkelroten Waggons, das Mitropa-Geschirr und die Verpackungen, die nach dem Corporate Design der Mitropa gestaltet waren und mittlerweile leidenschaftlich gesammelt werden. Heute weiß ich, dass es die Mitropa schon seit 1916 gab und dass es sich folglich gar nicht um eine DDR-Marke handelte. Neben den Autobahnrestaurants gab es viele weitere Gastronomieunternehmungen (wie die Bewirtschaftung von Hotels, Kiosken, Schiffen, Bahngasthöfen), darüber hinaus sogar Mitropa-Frisöre und Reinigungsbrigaden.
Auf dem eingangs erwähnten Blatt über die Anwendungsmöglichkeiten der Marke wurden festgelegt, dass das Zeichen in den Farben »Rot UM 103 und Gelb UM 113 lt Uniset-Farbmischblock« mit verschiedenen Outlines, auch negativ in schwarzen Balken oder in roter Fläche, angewendet werden drufte. Das Bildzeichen der Mitropa, das auf dem kleinen Block gar nicht auftaucht, hat hier ein Rad mit sechs Speichen und stattdes ursprünglichen Adlers (mit Schwingen in Form eines Versal-M) nur das große M in der Mitte. Das zeichen wurde nach dem zweiten Weltkrieg modifiziert und ohne Adlerkopf über dem M weitergeführt. Das vierspeichige Rad unter dem M bekam noch weitere Speichen, damit es auch nicht im Entferntesten an ein Hakenkreuz erinnert.
Ein an die Mitropa-Schrift angelehnter Font, die FF Pulman, wurde 1997 von Johannes Erler digitalisiert und ist bei Fontshop erschienen; die ursprüngliche Schrift stammte von Karl Schulpig, der auch der Gestalter der Bildmarke war. Auf dem Blatt zur visuellen Erscheinung der Mitropa heisst es u.a. auch: »Die Richtlinie wendet sich nicht nur an jene, die in der Werbung und Öffentlichkeit tätig sind, oder an Mitarbeiter, die durch ihren täglichen Kontakt mit den Gästen und Reisenden wesentlich zur Rufbildung des Betriebes beitragen«.
Wahrscheinlich lag dem strengen Service-Personal in den Mitropa-Autobahnrastgaststättem damals noch keine Richtlinie über kundenfreundliches Verhalten vor. Die Rufbildung entsteht eben doch nicht nur durch ein kleines feines Mitropa-Blöckchen mit einer interessanten Schrift.
Albert Mühl: 75 Jahre Mitropa - Die Geschichte der Mitteleuropäischen Schlafwagen- und Speisewagen Aktiengesellschaft, Freiburg 1992
Johannes Plass/Heinrich Paravinci: Wer war eigentlich Karl Schulpig? Über die Entwicklung der Bildmarken, in: Jahresheft des ADC: Sushi 6, Mainz 2004, www.mitropa-freunde.de
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.40-41.
Ferdinand Ulrich
Plastiktüte
Mit Motiven und Logos versehene Tüten machen einen beachtlichen Teil alltäglicher Drucksachen aus. Sie sagen etwas über unsere Gesellschaft und ihre Kultur aus. Nachdem wir sie ein paar Mal benutzt haben, verschwinden sie meist wieder, indem sie unseren Abfall vermehren. Das vorliegende Exemplar ist mir im Frühjahr 2012 während eines Aufenthalts in San Francisco in die Hände gefallen. Zur Beschaffenheit, Botschaft und grafischen Gestaltung der Plastiktüte einige Anmerkungen:
In einem amerikanischen Supermarkt zur Kasse vorgedrungen, erhält der Kunde die berühmte Frage »plastic or paper«. In die braunen Papiertüten passt deutlich mehr hinein, sie sind belastbar und reißen kaum, haben jedoch keine Henkel, ganz im Gegensatz zu den dünnen Plastiktüten, die sich für den kleinen Einkauf eigenen. Die sogenannten >carryout t-shirt plastic bags< sind mit drei Löchern ausgestattet. Durch diese hängen sie auf einer Vorrichtung und werden wue Zettel von einem Notizblock abgerissen (der ganze Stapel hat due Form eines T-Shirts), um zum Beispiel eine Gallone Milch hineinstellen zu können. Das übernehmen College-Stunden am Ende der Kasse, die bei Safeway, Giant Eagle und Co. einen Dollar dazuverdienen und schließlich einen »großartigen Tag« wünschen.
Wie viele kleine Erfindungen des Alltags, so ist auch dieses Produkt in den Vereinigten Staaten gleich mehrfach patentiert. Der Verpackungshersteller Sonoco Products Co. in South Carolina hat 1994 eine Kreation der Erfinder Beasley, Fletcher und Wilfong unter dem Kürzel US 5335788 A eintragen lassen: »A plurality of stacked t-shirt type hight density polyethylene film bagy releasably adhered together.« (1)
Advance Polybag, Inc., einer der großen Tütenhersteller der Vereinigten Staaten, versichert mit einem auf dem Patent beruhendem Design, dass sich Touch-N-Go nennt: »Makes check-out a smoother experience.« (2) Das Produkt sei ein Fliegengewichtaber kräftig, wiederverwendbar und angeblich eunendlich oft »recyclebar«, was schwer vorstellbar ist. Die Tüte besteht aus HDPE (high-density polyethylene, Kunststoffidentifikationscode >2<), eine Thermoplastikstoff der Petroleum gewonnen wird und auch bei herkömmlicheer 3D-Drucker-faser zum Einsatz kommt. Beim nächsten Einkauf also doch lieber eine Papiertüte.
Die Botschaft auf der Tüte erkennen wir an den Reden amerikanischer Politiker wieder, insbesondere den präsidialen Ansprachen zur Lage der Union (State of the Union Address). God bless Ameica ist ursprünglich der Titel eines patriotischen Liedes des Musikers Irving Berlin (eigentlich Israel Isidore Berlin) 1918 geschirben und zwanzig Jahre später bearbeitet. Die bekannteste Version wurde von Akte Smith gesunden, wobei das Lied bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. Es hat sich zu einer zweiten (inoffiziellen) Nationalhymne entwickelt. Im April 1979 war Richard Nixon der erste Präsident das Zitat nachweislich in seine Rede einbaute. (3).
Zum Höhepunkt der Watergate-Affäre bat er das amerikanische Volk: »I ask for your prayers to help me in everything I do throughout the days of my presidency« und fügte anschließend die berühmten Worte hinzu. Reagan nutzte sie, und besonders häufig haben wir sie von Georg W. Bush in Erinnerung – doch auch sein Nachfolger steht ihm in dieser Hinsicht in nichts nach.
Bei den >Stars and Stripes< hat der Grafiker ganz offensichtlich geschlafen oder nicht genau hingesehen. Die mittels Flexodruck (ein Hochdruckverfahren mit Rollenrotation) aufgetragene Welle in der wehenden Fahne ist missglückt, sie ähnelt eher einem Hügel und die Falten sind sehr unsauber gezeichnet. Vom Schriftzug ganz zu schweigen, wobei die Schriftwahl vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. Es handelt sich hierbei um die ITC Zapf Chancery Medium Italic von 1979. In dem langen Nahmen stecken einige Informationen.
Mit dem Fotosatz, der die Lettern aus Blei ablöste und seit den 1960er Jahren immer größere Verbreitung fand, wurde das Fälschen von Schriften ein Kinderspiel. Eine Fotokamera reichte aus, um ein Alphabet festzuhalten und daraus einen neuen Schriftzug zu generieren, ohne jedoch dafür zu zahlen. Besonders betroffen von dieser Form der Piraterie war der deutsche Schriftentwerfer Hermann Zapf. Einige Jahre zuvor hatter er sich aus dem Business zurückgezogen und nur noch Aufträge für Exklusivschriften entgegengenommen. Die Regierung der Vereinigten Staaten half nicht beim Copyright-Schutz von Schriften, Namen ließen sich jedoch als Marken registrieren. (4) So entwickelte der New Yorker Schriftenbetrieb International Typeface Corporation ein ausgeklügeltes System: ihre registrierten Schriftnamen setzten sich aus dem Kürzel der Firma (ITC), oft auch dem Namen des Schriftentwerfers (Zapf) und dem eigentlichen Namen der Schrift (Chancery) zusammen. Chancery leitet sich in diesem Kontext aus einer berühmten kalligrafischen Handschrift der Renaissance ab: cancellaresca.
In der berühmten ITC-Hauszeitschrift Upper and lower case (U&lc, dt. Groß- und Kleinbuchstaben), widmete man sich der ITC Zapf Chancery im Jahr ihres Erscheinens einen Artikel samt einer achtseitigen Schriftmusterstrecke. Die Einführung Pow! Bam! Zapf! stammt vom bedeutenden amerikanischen Grafikdesigner, Schriftgestalter, ITC-Gründer und U&lc-Herausgeber Herb F. Lubalin. In seiner Lobeshymne auf die Schrift schreibt Lubalin in überschwänglicher Sprache: »Hermann Zapf […] has designed what ITC believes to be an effective chancery script, showing itself through Zapf’s virtuosity to be more capable of becoming a universally recognized hand than, perhabs, any other.« (5)
Erkannt und auserwählt hat zumindest Steve Jobs die ITC Zapf Chancery – genau genommen den halbfetten Schnitt kursiv, medium italic – als 1985 eine Handvoll Schriften für den Apple LaserWriter zusammenstellte. Spätestens seit seiner Rede auf der Stanford-Abschlussfeier 2005 wissen wir, dass Jobs’ Teilnahme an einem Collegekurs in Kalligrafie ihn dazu bewog, den ersten Mac mit zahlreichen Schriften auszustatten.
Als Systemschrift fand >Chancery< schneller Verbreitung und galt als generische Vertreterin für eine >kalligrafische Lösung<. Aus der achtseitigen Schriftmusterstrecke zur ITC Zapf Chancery in der U&lc-Ausgabe sei noch eine fiktive Anwendung erwähnt: Visitenkarten und Briefkopf für ein Unternehmen mit einem besonderen Geschäftsmodell: »Spezialising in flags«.
(3) Billy Hallowell: The history behind U.S. presidents using 'God Bless America' in official speeches, 2014 veröffentlicht auf: www.theblaze.com (23.6.2015)
(4) Jerry Kelly: About more alphabets, The types of Hermann Zapf, New York 2011, S.55
(5) Herb Lubalin: Pow! Bam! Zapf! or, how to get the most out of ITC Zapf Chancery, in: Upper and lower case. The International journal of typographics, Ausg. 6, Nr. 2, New York 1979, S.36
Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.46-49.