Anna Berkenbusch

Den Alltag festhalten

Das Leben wird begleitet von visuellen Artefakten. FĂĽr die Organisation des Alltags benutzen wir Rechnungen, Ausweise und Eintrittskarten, Gebrauchsanweisungen und Kassenbons oft eher unbewusst und nebenbei. Belege werden fĂĽr die Steuer gesammelt, Quittungen heben wir fĂĽr den Umtausch auf und mit dem Reinigungszettel holen wir den Mantel ab.

Die Tagebücher meist älterer Menschen sind bisweilen gespickt mit Zeitungsausschnitten, Hochzeitseinladungen und Todesanzeigen. Sie dienen als Erinnerungshilfen und belegen, dass irgendetwas genau so, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit stattgefunden hat: die Hochzeit der Enkelin (Einladung), die Beerdigung des Nachbarn (Traueranzeige), der sechzigste Geburtstag von Tante Gerda (die Speisenfolge oder das Gedicht, das vorgetragen wurde), die Silberhochzeit (die Glückwunschkarten, die Rechnung der Gaststätte), die Gasexplosion in der Innenstadt (Zeitungsartikel) und so fort.

Ausweise und Formulare definieren die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wie zum Sportverein oder zu den Pfadfindern. Sie erzählen etwas über die Sprache einer bestimmten Zeit und über den alltäglichen Umgang mit Machtverhältnissen, Geschlechterrollen, Moden und gesellschaftlichen Konventionen. Solche Zeitzeugen in Nachlässen, Fotoalben und Tagebüchern scheinen wichtig zu sein, um den Alltag glaubhaft zu beschreiben, persönliche Erfahrungen aus dem Privaten herauszuholen und damit ein Stück Geschichte festzuhalten. Erinnerungen sind Teil der Gegenwart, und je älter ein Mensch wird, desto mehr spielen die Ereignisse der Vergangenheit eine Rolle; sie helfen in Zeiten der Krise und des Stillstands. Auch junge Menschen erinnern sich an eine tolle Abifahrt oder ein verregnetes Festival im Schlamm anhand von Konzertkarten oder Bierbons.

Warum sollte man den Alltag festhalten wollen? Wieso all diese scheinbar unbedeutenden Zettel aufheben? Viele der alltäglichen Drucksachen werden durch digitale Pendants ersetzt, und mit ihnen verschwinden die Auslöser von Erinnerungen. Ein Archiv für visuelle Alltagskultur kann Geschichte erlebbar machen. Anhand gesammelter Hintergrunderzählungen werden die gedruckten Zeitzeugen im Sinne von Oral History zu einem lebendigen Beitrag der Erinnerungskultur.

Als ich neulich in den noch nicht erfassten Einreichungen des Archivs etwas suchte, fiel mir der Wehrpass des Vaters eines Freundes in die Hände, auf dem Deckblatt mittig das schwarze Hakenkreuz, innen das Bild eines jungen Soldaten, Erich N. Fast ehrfĂĽrchtig hielt ich diesen Ausweis in den Händen, zusammen mit einer Suchanzeige, einem Formular, mit dem man nach dem Krieg eine verschwundene Person ausfindig machen konnte. Plötzlich wurde dieser Teil der deutschen Geschichte so greifbar, so nah, viel näher als durch einen Film oder ein Buch, und ich erinnerte mich an Erzählungen meines Vaters aus der Nazizeit. Die BeweisstĂĽcke machen auch Teile der Geschichte anschaulich, an die man sich nicht immer gern erinnert oder von denen man nicht einfach so erzählt: Notgeld, Pfandleihscheine, Lebensmittelkarten, Verordnungen, Gefangenschaft, Krieg.

Die HintergrĂĽnde der Exponate, die Informationen der Einreicher*innen zu den einzelnen Artefakten zu erfassen, ist neben der Archivierung der technischen Fakten (in Bezug auf Zeit, Papier, Schrift, Druckverfahren, Sprachduktus et cetera) ein wichtiger Teil der Arbeit im Archiv. Zum einen lohnt es sich, Hintergrundinformationen von Einreicher*innen in Bezug auf Zeugnisse der Oral History wertzuschätzen; zum anderen sind viele dieser Artefakte gerade auch fĂĽr Designer*innen interessant, da sie durch gestalterische Mittel vom jeweils aktuellen Zeitgeist erzählen.

Vor ein paar Jahren gründete eine Seminargruppe an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle eine Sammlung von Alltagsdrucksachen. Anregung dazu gab ein Besuch bei Michael Twyman im »Archive of Ephemera Studies« der Universität Reading.

Daraus entstand die Bachelor-Abschlussarbeit Zettelwerk, Archiv für Alltagsdrucksachen der drei Studentinnen Sarah Fricke, Lisa Petersen, Lea Sievertsen, die dem Archiv den Namen »Zettelwerk« und ein visuelles Erscheinungsbild gaben.

Das Archiv fĂĽr Alltagsdrucksachen hat mittlerweile Eingang gefunden in das Archiv fĂĽr visuelle Alltagskultur, das neben gedruckten Zeitzeugen auch kĂĽnstlerische Auseinandersetzungen mit solchen Kommunikationsmedien sammelt.