Ferdinand P. Ulrich

Ephemera Studies

Das Sammeln, Ordnen und Studieren von Alltagsdrucksachen ist eine vergleichsweise junge Disziplin, angesiedelt an Studiengängen, die kaum älter sind. 1962 erschien mit der Publikation Printed Ephemera. The changing uses of type and letterforms in English and American printing einer der frühesten Beiträge zu diesem Forschungsfeld im englischsprachigen Raum, in dem der Fachbegriff »Ephemera« (vom Griechischen ἐφήμερα, dt. für einen Tag, kurzlebig) geläufig ist. Herausgeber der Anthologie war der Drucker und Typograf John Lewis (1912–1996), der während seiner Lehrtätigkeit am Royal College of Art (1951–1963) begann, bis zu 400 Jahre alte Akzidenzen und seltene Schriftproben zu sammeln. Im Fokus seiner Untersuchungen stand die Forschungsfrage, wodurch sich alltägliche, scheinbar belanglose Zettel von bedeutenden Drucken dieser Zeit unterschieden.

Zu seinen Zeitgenossen, die mit vergleichbaren Sammlungen auf sich aufmerksam machten, zählte der Fotograf und Gestalter Maurice Rickards (1919–1998), als Vorreiter gilt der Drucker John Johnson (1882–1956), dessen beachtliche Sammlung in den Bodleian Libraries der University of Oxford zugänglich ist.[1] Von Rickards stammt die oft zitierte Definition »unbedeutender, vergänglicher Dokumente des Alltags«.[2] Früh bemühte er sich um die Anerkennung des Fachs an akademischen Einrichtungen und begann Mitte der 1970er-Jahre mit der Gründung der Ephemera Society. 1977 nahm Rickards zudem die Arbeit an dem umfangreichen Werk Encyclopedia of Ephemera auf, deren Fertigstellung er jedoch nicht erlebte. Erst zu Beginn der 1990er-Jahre gelang ihm mit der Unterstützung von Michael Twyman die Etablierung einer Stiftung sowie die Gründung des Centre for Ephemera Studies an der University of Reading in England. Twyman gehört dem Lehrkörper der Universität seit 1959 an und war maßgeblich an der Gründung des Studiengangs beteiligt, der sich in den 1970er-Jahren zum Institut Typography and Graphic Communication formte – es besteht bis heute unter diesem Namen. In über vierzig Jahren schuf das Institut zahlreiche Schnittstellen zur Wissenschaft und entwickelte dazu verschiedene Master-Studiengänge sowie einen PhD-Abschluss.

Seine Forschungsschwerpunkte fasst das Institut unter dem Leitgedanken »design for reading« zusammen (ein Wortspiel ist nicht beabsichtigt). Am Centre for Information Design Research werden Wissensvermittlung und die Gestaltung komplexer Informationen untersucht. So befasst sich Eric Kindel seit vielen Jahren mit der Bedeutung von ISOTYPE,[3] Sue Walker erforscht dazu im Besonderen das Werk Marie Neuraths, Chris Burke hat viele umfangreiche Beiträge über Schrift und Typografie in den 1920er-Jahren vorgelegt, Fiona Ross, Alice Savoie und Helena Lekka widmen ihre Forschungsaktivitäten aktuell dem Projekt Women in type, 1910–90. Twyman, der einen Großteil seiner Lehre und Forschung in die Bedeutung lithografischer Druckverfahren investiert hat, ist bis heute – weit über seine Emeritierung hinaus – am Centre of Ephemera Studies aktiv. Durch sein Engagement wurde die Encyclopedia of Ephemera schließlich vervollständigt und veröffentlicht, ein Meilenstein in der jungen Disziplin.[4] Twyman betreut weiterhin die umfangreiche Ephemera-Sammlung am Institut, deren Kern die jeweils 20 000 Artefakte umfassenden Nachlässe von Lewis und Rickards bilden.

Für internationale Vernetzung und Austausch ist schon jetzt die digitale Zugänglichkeit zu solchen Sammlungen von großer Bedeutung. Das von Rob Saunders 2015 gegründete Letterform Archive in San Francisco hat mit seinem kürzlich veröffentlichten Online-Archiv gezeigt, wie so eine zeitgenössische Plattform aussehen kann. In der richtigen Mischung aus technischer Ausstattung und wissenschaftlicher Betreuung liegt die Zukunft dieser Einrichtungen.

Veröffentlicht auf Zettelwerk.com, April 2020


[1] Die John Johnson Collection of Printed Ephemera umfasst Anzeigen, Rechnungen, Veranstaltungsprogramme, Speisekarten, Grußkarten, Plakate und Postkarten aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, die in über 700 Kategorien sortiert sind. Siehe: www.bodleian.ox.ac.uk/johnson.

[2] Übersetzung des englischen Originals »minor transient documents of everyday life«, u. a. erwähnt im Nachruf auf Rickards von P. Robertson, in The Independent, 20. Februar 1998.

[3] Akronym für das von Marie und Otto Neurath ab 1925 entwickelte International System of Typographic Picture Education (ursprünglich unter dem Namen Wiener Methode der Bildstatistik).

[4] Vgl. Maurice Rickards und Michael Twyman (Hrsg.), Encyclopedia of ephemera. A guide to the fragmentary documents of everyday life for the collector, curator and historian, London und New York 2000