Lea Sievertsen

Geschichte der stillen Schätze

Kisten voller Gold und Silber, Edelsteine oder Schmuck adliger Damen. So stellt man sich vor, was bei Kriegen im Mittelalter neben Macht und Territorien erbeutet werden konnte. Eine besondere Beute aber war diese: eine Truhe voll von wichtigsten Staatsdokumenten. Solch ein Moment, auf den man bei der Recherche nach den Ursprüngen des heutigen Archivs trifft, ist dieser: Fréteval 1194, wo sich die Truppen Fréteval 1194, wo sich die Truppen des Königs von England, Richard Löwenherz, und Philipp Augustus von Frankreichs auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden. Philipp, der selbst schon einige Kilometer voraus auf der Flucht war, ließ den gesamten Bestand an französischen Urkunden sowie das königliche Siegel zurück, sodass Richard eine großartige Beute machen konnte. Dieser entdeckte in den Urkunden den Verrat seines Bruders, und auch Philipp zog eine wichtige Konsequenz aus diesem Verlust. Er schaffte die Tradition des Mitführens wichtiger Staatsdokumente ab und richtete einen sicheren Ort in Paris ein, an dem die Dokumente gelagert werden sollten. Diese Entscheidung markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Archivs, denn nun mussten die Papiere nicht mehr gemeinsam mit dem König reisen. Natürlich war dies nicht der Moment, in dem alle Akten Europas sofort in ein Archiv überwiesen wurden, dies war ein langsamer Prozess und auch einige Hundert Jahre später kam es noch zu Fällen, in denen wichtigste Dokumente unterwegs zerstört, verloren oder zurückgelassen wurden.

Andererseits führte die spätere Sesshaftigkeit des Archivs immer wieder zu Konflikten aller Art. In Deutschland kam es zu Erbteilungen in den verschiedenen Fürstentümern oder Herzogtümern. Hiervon waren nicht nur die Ländereien betroffen, sondern sämtliche Besitztümer, zu denen auch die Dokumente des Archivs gehörten. So wurden Archive immer wieder auseinandergenommen und aufgeteilt, teilweise ohne jeden Sinn, was zu einer großen Unordnung und fehlender Systematik in den Beständen führte. Gab es Dokumente, die nicht verteilt werden konnten, da sie doch für die ganze Familie zu bedeutend erschienen, wurden gemeinschaftliche Archive eingerichtet, über die mit großer Vorsicht gewacht wurde.

Die ernestinischen Herzogtümer, die im 15. Jahrhundert das damalige Sachsen regierten, hatten beispielsweise nicht einmal hundert Jahre nach ihrer Entstehung 1486 ihre Gebiete untereinander so stark aufgeteilt, dass es teilweise bis zu zehn Teilherzogtümer gab. Das gemeinsame Archiv, das die Familie sich in Weimar teilte, hatte für jedes Herzogtum ein Schloss an der Archivtür und diese konnte nur geöffnet werden, wenn alle Schlüssel vor Ort waren. Das Misstrauen unter den einzelnen Familienmitgliedern und der Wert des Archivs als Machtsymbol waren groß.

Der Vorgang des Archivierens ist etwas, das schon mindestens seit der Antike Bestandteil menschlicher Kulturen ist, das Sammeln als solches reicht bekanntlich noch viel weiter zurück. Wichtig ist aber, das die Handlung des Archivierens, also das Ordnen, Organisieren und Aufbewahren von Schriftstücken, schon wesentlich länger Bestandteil der Kulturgeschichte ist als das Archiv im Sinne des Ortes oder Gebäudes. Mit der stärker werdenden Verschriftlichung der europäischen Gesellschaft gewinnt auch das Archiv an Bedeutung. Nicht nur, dass das Reisen mit Dokumenten gefährlich war, es wurde auch immer schwieriger, der Masse an Dokumenten Herr zu werden. Der Umgang mit Dokumenten wurde zu einem Bestandteil des alltäglichen Lebens, und alle wichtigen Vorgänge, vor allem Staat, Gesetz und Kirche betreffend, wurden schriftlich fixiert. Dass originale Schriftstücke so wertvoll waren, dass sie aufgehoben werden mussten – zur Geschichtsschreibung, aber vor allem zur Sicherung und als Beweis juristischer Vorgänge, von Verträgen oder sozialen Beziehungen – ist eine Idee, die sich bis in die gegenwärtige Kultur durchgesetzt hat. Wie wichtig ist es heute für jeden Einzelnen, Dokumente wie die Geburtsurkunde, Zeugnisse oder Finanzunterlagen sorgfältig im eigenen Aktenordner aufzubewahren.

Neben den Dokumenten, die den Menschen wertvoll und aufbewahrungswürdig erschienen, wurden auch andere Papierformen geschaffen, die nur für einen kurzen Gebrauch bestimmt und nicht dafür gedacht waren, in die Archive zu gelangen. Dinge wie Notizzettel oder Besorgungslisten wanderten in den Müll, machten aber doch einen wichtigen Teil der damaligen wie der heutigen Schriftkultur aus. Es lässt sich hier also festhalten, dass nicht jedes Schriftdokument automatisch einen Wert hatte und die Geschichte der Textdokumente nicht unbedingt mit der des Archivs einhergeht. Das jeweilige Ablagesystem oder Platzmangel konnten ebenfalls die Auswahl an Archivalien beeinflussen.Vieles lässt sich gerade an den Lücken, die durch diese Art der Selektion entstanden, über die Kultur und die Menschen ablesen.

Trotzdem wurde die Zahl der aufzubewahrenden Dokumente ab dem 12. Jahrhundert immer größer. Bei juristischen Prozessen wurde nicht mehr nur das Urteil festgehalten, sondern auch nach und nach jeder Einzelschritt dokumentiert. Tatbestände, Urteile oder die Abläufe von Entscheidungsprozessen mussten fixiert werden, um so dauerhaft zur Erinnerung und Einsicht zur Verfügung zu stehen und Gültigkeit zu bewahren. Dass die Erfindung des Papiers zu diesem Zeitpunkt Europa erreichte, trug nicht unerheblich zu dieser „Explosion von Schriftlichkeit“  bei. Nicht nur die Verwendung von Dokumenten veränderte sich, es war auch der Umgang der Menschen mit diesen. Schriftlichkeit wurde zu einem Vertrauensbeweis. Rechenschaft über Entscheidungen abzulegen und diese festzuhalten, veränderte sogar die Form des Regierens. Reine Machtausübung wurde zum kontrollierten Herrschen. Die Gesellschaft entwickelte den Hang, alles zu protokollieren und durch das Festhalten auf Papier zu kontrollieren. So kritisierte noch in den 1960ern der kanadische Philosoph Marshall McLuhan, dass der Mensch sich durch die Verschriftlichung der Gesellschaft zu sehr von seinen intuitiven Fähigkeiten distanziere und seine visuelle Wahrnehmung nicht mehr hinterfrage.

Das Archiv als Ort des Festhaltens, des Wissens und der Erinnerung ist immer in Veränderung und Bewegung. Es bedarf ständiger Sorgfalt und Pflege und einer Person, die sich der Ordnung (oder der Unordnung) annimmt und den Überblick behält. Archive sind keine natürlichen Prozesse, es wird immer jemand benötigt, der ermöglicht, dass sie ihrer Funktion entsprechend nutzbar sind.

Archivare waren bis mindestens in das 14. Jahrhundert Personen, die die Verantwortung für das Archiv neben anderen Berufen ausübten, sodass das Archivieren eher eine Art der Nebentätigkeit war. Mit zunehmender Größe und Institutionalisierung der Archive wurde hier aber auch erkannt, dass man eine Person benötigte, die sich in System und Logik der sortierten Dokumente auskannte und diese pflegte. Ein Archivar musste vertrauenswürdig und loyal sein und häufig kam es zu Problemen bei der Personenwahl, denn die Verwaltung der Dokumente war eine äußerst wichtige Angelegenheit. Ein guter Umgang mit Schrift und ein gewisser Bildungsgrad waren vorausgesetzt, musste ein Archivar doch in den alten Schriften lesen können, um geeignete Akten herauszusuchen, sollten diese zum Beispiel bei juristischen Entscheidungen gefordert sein. Wenn man in diesem Bereich eine Begabung mitbrachte, konnte man in der Gesellschaft aufsteigen und auf eine gute Bezahlung hoffen, denn für die Arbeitgeber war man von größtem Nutzen. Im Kontrast dazu schaffte aber beispielsweise der französischen Hof um 1700 auf der Suche nach neuen Geldquellen die Möglichkeit für gut situierte Bürger, sich nach Belieben ein Staatsamt zu kaufen. Dadurch ging auch die Führung eines Archivs häufig nicht damit einher, dass eine besonders qualifizierte Person in dieser Position zu finden war. Dieses Vorgehen führte zu Chaos in den Archiven, denn die Ausführung der Aufgaben wurde nicht unbedingt verantwortungsvoll oder mit großem Interesse verfolgt.

Auch war das Ansehen des Berufs in der frühen Neuzeit nicht unbedingt entsprechend seiner Wichtigkeit und Verantwortung. Die Vorstellung eines einsamen Mannes im Gewühl tausender alter Papiere schien den meisten Leuten wohl als zutreffendes Bild des Archivalltags. Auch heute noch ist der Beruf verknüpft mit der Vorstellung von einer zurückgezogenen und etwas schrulligen Person. Archivare sind aber nicht nur mit der Sortierung von Akten beschäftigt, sondern tragen auch als Gelehrte einen großen Dienst zu Geschichtsschreibung und Wissenschaft bei. Wenn sie nicht selbst als Historiker tätig sind, so unterstützen sie diese bei der Recherchearbeit mit den richtigen Dokumenten.

Dieses ideale Bild der Zusammenarbeit trifft und traf natürlich nicht immer zu. Es lassen sich viele Geschichten über Schwierigkeiten beim Benutzen von Archiven finden. Bis in das 19. Jahrhundert war es, vor allem für Historiker, äußerst kompliziert, den Zugang zu Archiven gewährt zu bekommen. Niemand wusste über alle Akten, die sich im eigenen Archiv befanden, genau Bescheid, und dieser Überraschungseffekt hatte schon zu mehr oder weniger erwünschten Entdeckungen geführt. Aus Angst vor diesen zufälligen Funden wurde das Erlangen der Zugangserlaubnis häufig zu einer mühsamen und schwierigen Angelegenheit. Besuche mussten Jahre im Voraus geplant, Erkundigungen über die Bestände eingeholt und soziale Beziehungen ausgenutzt werden. Sogar Bestechung und Täuschung waren übliche Verfahren, um sich Zugang zu verschaffen. Besonders ambitionierte Historiker legten sich falsche Identitäten zu, um ihre Forschungen vorantreiben zu können. Auch die Benutzung selbst konnte durch versteckte Verzeichnisse oder unmögliche Arbeitsplätze in den kleinsten und dunkelsten Räumen erschwert werden.

Für die Arbeit des Historikers aber war das Archiv als Quelle unumgänglich, denn zu dieser Zeit war die Nähe zum Original etwas, auf das man sich bei seiner Forschung vertrauensvoll berufen konnte, und welche das Ansehen der eigenen Theorien enorm verstärkte.

Eine Sichtweise, die damals schon unter einigen Historikern umstritten war, denn inwiefern die Dokumente wirklich wahrheitsgemäß und korrekt über Umstände der Vergangenheit berichteten, wurde stark diskutiert, und die auf archivalischer Arbeit basierende Geschichtsschreibung befand sich in der Kritik.

Auch nach der Demokratisierung der Archive durch die französischen Revolution, während der sie zu staatlichen Institutionen für die Öffentlichkeit wurden, bleibt diese Kritik bis heute bestehen. Foucault versteht 1969 unter dem Begriff des Archivs nicht mehr die Tätigkeit des Sammelns oder Aufbewahrens von Dokumenten, sondern den Rahmen oder die Bedingung für historische Aussagen. Archive sind seiner Idee nach Systeme für das, was in einer Kultur gesagt werden durfte, und gleichzeitig auch für das, was nicht erwähnt werden sollte.

Archive sind immer gleichzeitig Orte der Geschichte und der Zukunft. Nie kann man genau wissen, welche Dokumente von Nutzen sein können und wie sich ihr Wert verändern wird. Etwas, das heute als unbrauchbar oder überflüssig erscheint, könnte in 100 Jahren von großem Wert für den Nutzer sein. Je nach Gebrauch des Archivs tun sich immer wieder neue Möglichkeiten für Suchkriterien oder zur Erforschung auf. Sie müssen flexibel bleiben und sich durch immer wieder neue Interessen ihrer Umwelt verändern. Die Bestände können auch in Zukunft noch zu ungeahnten Schätzen werden.

Dieser Text erschien zuerst in: Berkenbusch, Anna/Fricke, Sarah/Petersen, Lisa/Sievertsen, Lea (Hrsg.): Mitteilungen aus dem Zettelwerk, Halle (Saale) 2015, S.22-24.